Eine Mutter erzählt wie sie ihre Tochter mit viel Disziplin und Konsequenz bei der Heilung unterstützt hat

Als Mutter ist es schwer, die eigene Tochter leiden zu sehen, vor allem, wenn man die Ursachen nicht sofort erkennt. Susannes Tochter mit Essstörung, Stella, war immer dünn gewesen, weshalb die Familie zunächst keine Hinweise darauf bemerkte. Doch als sich körperliche Symptome wie Kopf- und Bauchschmerzen häuften, führte der Weg zuerst in eine Schmerzklinik, bevor erst bei einem erneuten Klinikaufenthalt die wahre Diagnose ans Licht kam: Essstörung.
Die ersten Anzeichen: Ein unsichtbares Problem
Rückblickend erinnert sich Susanne, dass Stella bereits über längere Zeit Anzeichen von Angst und Unbehagen zeigte. Sie wollte nicht mehr zur Schule gehen, war oft niedergeschlagen und zeigte körperliche Beschwerden. Doch eine Essstörung vermutete zu diesem Zeitpunkt niemand. Stella war schon immer zierlich, und wie viele Eltern von Jugendlichen hatte auch Susanne keinen genauen Überblick, was und wie viel ihre Tochter tatsächlich aß, da Stella viel unterwegs war. Erst der Klinikaufenthalt wegen der Schmerzen offenbarte das wahre Problem: Ihre Tochter litt an einer schweren Essstörung.
Der Schock der Diagnose: Essstörung und Kindeswohlgefährdung
Erst als Stella aufgrund ihrer körperlichen Beschwerden bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate in einer Klinik war, wurde schnell die Diagnose „Essstörung“ gestellt und es wurde klar, wie ernst die Lage war. Stella war so untergewichtig, dass sie im Rollstuhl sitzen musste. Für Susanne war das ein schwerer Moment. Die Klinikaufenthalte waren belastend für die ganze Familie, besonders für Stella, und sie wünschte sich einen ambulanten Weg.
Da die Essstörung aufgrund des sehr geringen Gewichts jedoch als Kindeswohlgefährdung eingestuft wurde, blieb keine andere Wahl, als Stella in eine Klinik einzuweisen. Dieser Schritt war für die gesamte Familie eine enorme Belastung. Stella fühlte sich eingesperrt, lief sogar aus der Klinik weg, und die Zeit dort schien für alle endlos.
Der Wunsch nach einem anderen Weg
Der Wendepunkt kam, als Susanne beschloss, einen eigenen Plan zu entwickeln, um Stella in einem geschützten Rahmen nach Hause holen zu können. Dafür musste ein striktes Konzept her, das die Genesung sicherstellte. Es wurde vereinbart, dass Stella ein Mindestgewicht erreichen müsse, um entlassen zu werden. Als diese Hürde geschafft war und Stella endlich nach Hause durfte, brachte dies eine klare Ansage mit sich: „Du machst jetzt genau das, was wir sagen, und wenn du nach links und rechts auswischst, bringen wir dich direkt zurück in die Klinik.“
Ein strikter Plan: Konsequenz und Struktur
Zu Hause begann Susanne, ein striktes Konzept umzusetzen, das an die Essenspläne von Kliniken angelehnt war. Am Anfang bestand dieser Plan aus sechs Mahlzeiten pro Tag, später wurden es fünf, inklusive Wahlmöglichkeiten, damit Stella zumindest ein wenig mitentscheiden konnte, was sie essen wollte. Die Regel war eindeutig: „Jede Woche 300 Gramm Zunahme und jede Woche 200 Kalorien mehr.“ Sollte Stella diese Vorgaben nicht einhalten, drohte die Rückkehr in die Klinik. „Wenn das einmal nicht klappt, gibt es eine gelbe Karte, beim zweiten Mal geht es zurück in die Klinik.“ Dieser Druck war letztlich der Schlüssel für Stellas erste Fortschritte.
Die harte Realität: Rückschläge und Belastungen
Die ersten Wochen zu Hause waren unglaublich schwierig. Es gab viele Rückschläge, sowohl physisch als auch psychisch.„Ich habe in dieser Zeit eine Konsequenz an den Tag gelegt, die ich vorher nie kannte“, erzählt Susanne. Parallel dazu war Susanne selbst schwer belastet. Sie arbeitete weiterhin, doch irgendwann wurde der Druck zu groß, und sie landete schließlich selbst in einer Klinik, um sich zu erholen. Diese Zeit war für die Familie schwierig, doch Stellas Fortschritte blieben konstant. Die strikten Regeln und der geregelte Alltag halfen ihr, langsam zurück ins Leben zu finden.
Ein Wendepunkt: Rückkehr in die Schule und neue Freiheiten
Nach mehreren Monaten durfte Stella schließlich zurück in die Schule. Trotz fast eines Jahres Abwesenheit gelang es ihr, den Anschluss zu halten – ein Beweis für ihre Disziplin und den eisernen Willen, der viele Betroffene einer Essstörung auszeichnet. Es wurde immer deutlicher, dass die Kliniktherapie Stella stark belastet hatte. Traditionelle Therapieformen waren für sie traumatisierend, weshalb sie auf eine alternative Therapieform umstieg: Reittherapie. Diese niedrigschwellige Therapieform überforderte sie nicht und gab ihr den Raum, den sie brauchte, um weiter zu heilen.
Unterstützung für die Familie: Family-Based Treatment und neue Perspektiven
In dieser Phase stieß Susanne auf das Family-Based Treatment (FBT), eine Methode, von der sie zuvor noch nie gehört hatte. Sie erkannte, dass das, was sie intuitiv zu Hause getan hatte, genau dieser Methode entsprach. Das gab ihr neue Hoffnung und Bestätigung. In dieser Zeit erfuhr sie auch, dass sie für ihre Betreuung einen Pflegegrad für ihre Tochter hätte beantragen können – eine wichtige Entlastung für Familien in ähnlichen Situationen. Für Susanne war diese Reise nicht nur eine Prüfung ihrer Kraft und Konsequenz, sondern auch ein Wendepunkt in ihrem eigenen Leben. Durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Essstörungen entdeckte sie, dass es ihr ein Herzensanliegen war, auch anderen Familien in ähnlichen Situationen zu helfen. Mit dieser neuen Perspektive begann Susanne, sich weiterzubilden. Sie absolvierte unter anderem eine Ausbildung zur systemischen Beraterin und erwarb zusätzliche Qualifikationen, um anderen Familien mit essgestörten Kindern helfen zu können. „Wenn wir das schaffen, dass unsere Tochter wirklich wieder gesund wird, dann verspreche ich, helfe ich anderen Familien mit dem Wissen und den Erfahrungen, die ich jetzt hier gesammelt habe“, so ihr Versprechen an sich selbst.
Der Weg in ein neues Leben: Stella’s Genesung und Zukunftspläne
1,5 Jahre nach ihrem letzten Klinikaufenthalt hat Stella die Schule abgeschlossen und anschließend ein Jahrespraktikum in der Kinderklinik absolviert, in der sie 2 Jahre zuvor selbst als Patientin war. Der Schritt half ihr, ihre Selbstwirksamkeit zu spüren und neue Stärke zu gewinnen. Heute hat sich Stellas Leben grundlegend verändert. Sie studiert, hat tolle Freunde und fühlt sich gut. Die Reise durch die Essstörung war für Stella und ihre Familie ein steiniger und langwieriger Weg, aber letztendlich auch ein Weg der Hoffnung und des Wachstums. Die intensive Unterstützung ihrer Mutter und das klare Konzept zu Hause haben Stella geholfen, Schritt für Schritt zurück ins Leben zu finden. Stella hat ihre Erlebnisse und den langen Weg der Genesung in einem Buch verarbeitet, das über F‑50 erworben werden kann.
Die komplette Podcast Episode zu diesem Thema könnt ihr euch hier anhören:
Wichtig! Die bereitgestellten Informationen dienen ausschließlich zu informativen Zwecken und sollten nicht als medizinischer Rat verstanden werden. Bei persönlichen Anliegen oder gesundheitlichen Bedenken ist es wichtig, dass du dich von einer qualifizierten Ärztin oder einem qualifizierten Arzt beraten lässt.
Wir bieten ein Mentoring Programm für Menschen mit Essstörungen und problematischem Essverhalten, sowie eine Online-Community (kostenlos) für Betroffene und ehemalige Betroffene an. Gerne findest du uns auf Instagram.
